Es ist ein Automatismus, der hier beschrieben wird: wer Gott liebt, der liebt auch seinen Bruder. Da gibt es kein Wenn und Aber: beides gehört zusammen. Die Erkenntnis, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, zieht sich von der Schöpfungsgeschichte an durch die Bibel. Ich finde es faszinierend, dass sogar die Rechtstexte des Alten Testaments von dieser grundlegenden Erkenntnis geprägt sind. Der Schutz des Schwachen hat absolute Priorität.
Für den Verfasser des 1. Johannesbriefes ist dieses Gebot das Ende einer Argumentationsreihe:
– Gott ist Liebe; wer liebt, kennt also Gott
– aus Liebe hat Gott seinen Sohn zu den Menschen geschickt
– als Zeichen für Gottes Liebe sollen wir uns untereinander lieben
Die Liebe ist also der Anker Gottes auf Erden. Spannend ist hierbei, dass man dem unsichtbaren Gott in der Liebe der Menschen zueinander begegnen kann. Die Menschen also können Gottes Boten auf Erden, Gottes Engel, werden.
In der letzten Sendung von „Neo Magazin Royale“ war die Buchautorin Julia Shaw bei Jan Böhmermann zu Gast. Zwar hat mich Julia Shaw mit ihren Ansichten so gar nicht überzeugt, einen Punkt von ihr fand ich aber sehr treffend. Ihre Antwort auf die Frage, wie man böse Menschen erkenne – und böse Menschen sind Menschen, die ihre Mitmenschen nicht lieben – lautete sinngemäß: „Ich schaue mir an, wie jemand mit dem Kellner im Restaurant umgeht. Daran erkennt man, wie jemand seine Mitmenschen behandelt.“
Keine schlechte Methode. Nur wer den Menschen nicht als Menschen sieht, kann sich erlauben, seine Mitmenschen abschätzig zu behandeln, weil sie – scheinbar – in der Hierarchie niedriger anzusiedeln sind oder einfach weil sie angestellte sind. Wer den Menschen nicht mehr sieht, weil er eine Dienstleistung bezahlt, der liebt Gott nicht, der kennt Gott nicht.
Präsentiert wird uns diese Erkenntnis im 1. Johannesbrief nicht als Glaubenssatz, sondern als Gebot: Um Gottes willen sollen wir wohlwollend gegenüber unseren Mitmenschen sein. Eigentlich ist das machbar. Eigentlich.
Und dies Gebot haben wir von ihm,
dass, wer Gott liebt,
dass der auch seinen Bruder liebe.
1. Joh 4,21