Manchmal wünsche ich ihn mir zurück, diesen Geist der Reformation.
Dass sich etwas bewegt, dass hinterfragt wird, das starre System angeklagt wird, Altes und Morsches, das sich nicht bewährt hat, weggefegt wird.
Dann aber lese ich Zeitung, sehe ich Nachrichten.
Dies ist mein Land: Rechtsradikale sehen in unserer Demokratie ein verachtenswertes „System“ und gewinnen immer mehr Sympathisanten. Worte wie Systempartei und Systempolitiker werden hoffähig. Medien werden pauschal als Lügenpresse diffamiert. Einen AfD-Politiker, den man laut Gerichtsurteil Faschist nennen darf, gelingt ein enormer Wahlerfolg.
Und dann sage ich mir: Das ist nicht der Geist der Reformation, den ich mir wünsche. Das ist nicht angeleitet vom Geist der Gnade Gottes, das ist angeleitet von Hass und Verachtung.
Ja, auch bei Martin Luther ist in vielen seiner Texte Verachtung zu spüren: gegenüber Heuchlern, gegenüber der katholischen Kirche, allen voran dem Papst, gegenüber Juden und Muslimen.
Unverzeihliche Aussagen hat Luther getroffen. Diesen indiskutablen Aussagen stehen bei Luther aber die Sorgen um den Menschen und das Wissen um Gottes Liebe für die Menschen gegenüber.
Wo erleben wir heute in unserer Gesellschaft diese Sorge?
Der Respekt im Umgang miteinander wird zurecht eingefordert.
Menschlichkeit im Umgang miteinander wird zurecht eingefordert.
Bei all dem, wo es in der Politik und in der gesellschaftlichen Diskussion um Details geht, wo die Auseinandersetzungen sich verlieren im Beharren auf unterschiedliche Positionen, besteht die Gefahr, dass der Blick für das Wesentliche verloren geht. Politiker, die – nicht nur in der Klimapolitik – wie Getriebene wirken, deren Tun fast schon beliebig ist, machen es leicht, sie anzugreifen.
Hier können wir von Martin Luther lernen: Politische Verven haben etwas für sich, zeigen sie doch, dass man zuhört und nicht nur abwehrt. Aber sie stehen immer auch im Verdacht, allein vom Wunsch nach Machterhalt getragen zu sein. Authentizität, wie sie Martin Luther vorgelebt hat, ist stattdessen gefragt. Überzeugungskraft, nicht Einknicken.
„Wir haben verstanden“ – das ist eine Formulierung, die ich bei Politikern nicht abkann. Sollten sie nicht vielmehr andere überzeugen als überzeugt zu werden?
„Ich habe verstanden“ kann aber auch der schönste Satz sein, den die Reformation hervorgebracht hat.
Wenn Neonazis ins Aussteigerprogramm gehen, wenn Fakten akzeptiert und nicht einfach ignoriert werden, wenn Vorurteile ab- und nicht aufgebaut werden, dann zeigt sich, was Reformation vermag. Das ist der Geist der Reformation, den ich mir wünsche.
Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
1 Kor 3,11
Die Weisheit aber von oben her ist zuerst lauter,
dann friedfertig, gütig, lässt sich etwas sagen,
ist reich an Barmherzigkeit und guten Früchten,
unparteiisch, ohne Heuchelei.
Jak 3,17